Spryker ist eine cloud-basierte, Headless-Plattform für B2B- und B2C-Geschäftsmodelle und Marktplätze und eine der global am schnellsten wachsenden Enterprise-Plattformen. Mit seiner modularen SaaS-Lösung hat Spryker bereits über 150 Unternehmen in über 200 Ländern beim weltweiten Aufbau ihrer Handelsmodelle unterstützt. Darunter sind etwa Unternehmen wie METRO, A.T.U., Toyota und Continental.
Im OMKB Deep Dive legt Alexander Graf, Mitgründer und Co-CEO von Spryker, seine Meinung zu der angekündigten Übernahme von home24 durch XXXLutz dar und erklärt, wie die steigende Inflation und die marktbeherrschende Macht sich auf den deutschen E-Commerce auswirken und wie sich die Beziehung zwischen Hersteller:innen und Händler:innen durch die Bewegung hin zu mehr D2C verändern wird.
Das Video mit Alexander Graf von Spryker
XXXLutz und home24 – kluge Übernahme oder Schuss in den Ofen?
Christoph Steger: Heute mit dabei ist Alexander Graf – E-Commerce-Unternehmer aus Leidenschaft und Mitgründer und Co-CEO von Spryker Systems. Spryker ist eine cloud-basierte Headless-Plattform für anspruchsvolle Geschäftsmodelle und betreut illustre Kund:innen wie Toyota, Hilti und Aldi. Das Unternehmen kommt ursprünglich aus Hamburg und hat in den letzten Jahren eine spannende Entwicklung hingelegt.
Alex hostet zudem zweimal pro Woche den Kassenzone-Podcast, der inzwischen eine echte Institution in unserer Branche geworden ist. Unter dem Motto „Innovate or die“ hat er immer wieder interessante Gäste zu Besuch. Deswegen freuen wir uns sehr, dass Alexander heute bei uns im Talk dabei ist.
Sein Gesprächspartner wird Schahab Hosseiny sein, den viele sicherlich auch schon kennen, da er zuvor bei vielen OMKBs als Host dabei war. Schahab ist leidenschaftlicher Digital Marketer mit über 15 Jahren Expertise und CEO der Think11 GmbH mit Standorten in Österreich und Deutschland. Schahab, hast du auch ein Motto?
Schahab Hosseiny: Mein Motto ist, gleich viel Spaß mit Alex zu haben.
Christoph Steger: Sauber, dann holen wir Alex dazu und ich wünsche euch viel Spaß im Talk.
Schahab Hosseiny: Danke, Christoph und hallo, Alex. Lass uns direkt einsteigen.
Alexander Graf: Gerne.
Schahab Hosseiny: Du hast sicherlich gelesen, dass home24 von XXXLutz übernommen werden soll, wodurch die Aktie gestern um rund 150 Prozent zugelegt hat. Das erlebt man nicht alle Tage, obwohl der Börsenwert gegenüber der IPO noch ziemlich niedrig ist. Wenn man dir folgt, könnte man annehmen, dass du eine Glaskugel hast, weil dieses Thema mit den besagten Protagonisten bereits auf deiner Agenda war. War der Schritt eine Überraschung für dich?
Alexander Graf: Nein, das war keine Überraschung. Kurz zur Erklärung: Der Möbelhändler XXXLutz – immerhin hinter IKEA der zweitgrößte in Europa – hat angekündigt, home24 mit den dazugehörenden Portalen für 250 Millionen Euro kaufen zu wollen. Dazu gehört unter anderem die Butlers-Gruppe, die sich home24 kürzlich einverleibt hat.
Im Kassenzone-Podcast habe ich schon mit Florian Heinemann darüber gesprochen, ob man aktuell angesichts der günstigen Börsenpreise vieles von der Börse nehmen sollte. Und mit Yara Molthan habe ich darüber geredet, ob es nicht Sinn ergeben würde, sich home24 einzuverleiben, dessen Börsenkurs schon vor einem halben Jahr nicht besonders gut war. Deswegen finde ich den Schritt vollkommen nachvollziehbar. Ob er auch funktioniert, ist natürlich eine andere Frage. Viel spannender finde ich den Kaufpreis im Verhältnis zum Aktienkurs.
Schahab Hosseiny: Glaubst du denn, dass dieser Zukauf unabhängig vom Kaufpreis funktionieren wird?
Alexander Graf: Diese Frage hat für mich mehrere Dimensionen. XXXLutz hat in der Vergangenheit bereits angekündigt, stärker in Online-Kanäle investieren zu wollen. Sie haben bereits ein designiertes Lager gebaut, aber sie haben dennoch keine generische Online-Kompetenz. Nun müsste man schauen, wie viele Kund:innen überhaupt bei home24 einkaufen – wenn ich das richtig erinnere, waren das 2 Millionen Kund:innen im Jahr.
Nun ist XXXLutz also bereit, für den Zugang zu diesen Kund:innen 250 Millionen Euro zu bezahlen. Sofern home24 über die entsprechenden E-Mail-Adressen und Reaktivierungsstrategien verfügt, ist der Kauf dieses Kund:innenstamms wahrscheinlich günstiger für XXXLutz als sie über Facebook oder Google über Online-Marketing zu gewinnen. Auf dem Papier ist es deshalb sehr schlau, jetzt bei home24 zuzugreifen – vielleicht kommen dabei außerdem technische Expertise und ein gutes Team dabei herum, das an den klassischen Standorten von XXXLutz nicht so einfach hätte angeworben werden können.
„Der Kauf von home24 durch XXXLutz ergibt durchaus Sinn, aber ob er sich auszahlen wird, ist eine andere Frage.“
Es ist schwierig vorherzusagen, da in der Vergangenheit viele Firmenakquisitionen, bei den sich große Firmen kleine Online-Portale gekauft haben, nicht funktioniert haben. Das gelingt selbst dann manchmal nicht, wenn das kaufende Unternehmen bereits eine digitale DNA hat. Man hat das beispielsweise gesehen, als Amazon Zappos und Woot gekauft hat – diese Unternehmen haben heute eigentlich keine Marktrelevanz mehr.
Das kann sich geändert haben, weil der M&A-Markt seitdem große Fortschritte gemacht hat und inzwischen besser darin geworden ist, Talente und Assets zu binden. Zudem besteht eine hohe Chance, dass home24 schnell wieder profitabel wird, wenn sie die Einkaufsfähigkeiten der Nutzgruppe nutzen oder deutlich stärker auf den Verkauf von XXXLutz-Artikel setzen. Wenn das aber nicht stringent aufgezogen wird und das Erwartungsmanagement in die falsche Richtung läuft, kommt es normalerweise zu Problemen. Das zeigt sich darin, dass die Kund:innenakquise nicht gelingt und die Talente der eingekauften Firma abwandern. Dieser theoretische Zukauf von Kund:innen und Talenten schlägt sich dann nicht wie gewünscht in der praktischen Gewinn-Verlust-Rechnung nieder.
Schahab Hosseiny: Siehst du gleichzeitig das Problem, dass bei XXXLutz durch die vielfachen Zukäufe die interne Transformation ausgebremst wird, weil man sich zu sehr auf die eingekauften Assets konzentriert?
Alexander Graf: Es besteht definitiv ein großes Risiko darin, das eigene E-Commerce-Budget komplett in das neue Business zu stecken und dadurch die eigene Webfähigkeit hinten anstellt.
„Wenn man mein und Yaras Format etwas verfolgt, wird man gehört haben, dass wir nicht besonders gut über die Web-Performance von XXXLutz sprechen, weil es noch einiges auf der Portalseite, im Inventory Management, aber auch bei Grundlagen wie dem Produkt-Management zu tun gibt.“
Daran sieht man, dass der Konzern nach wie vor stark am stationären Möbelhaus festhält und keinen Wert darauf legt, dass die Produktdaten online gut verwendet werden können.
Die Gefahr besteht, dass die schlauen Online-Marketeers nach der Akquise nur bei home24 eingesetzt werden, weil der Kauf schließlich so teuer war und der sich lohnen soll. Das könnte die Transformation von XXXLutz noch weiter ausbremsen und genau das muss verhindert werden.
Podcast – State of E-Commerce mit Alexander Graf
Inflation, Krieg, Herbstwelle. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für Akquisen?
Schahab Hosseiny: Lass uns über weitere mögliche Akquisitionsoptionen sprechen. Wir haben einige schwierige Monate vor uns, da niemand weiß, was Corona und der Krieg in der Ukraine für unseren Herbst und Winter bedeuten werden. Glaubst du, dass jetzt der richtige Zeitpunkt zum Akquirieren beziehungsweise zum Akquiriert werden ist?
Alexander Graf: Ich möchte natürlich keine Anlageempfehlung durchführen. In Bezug auf XXXLutz ist es aber ziemlich spannend, dass die Bewertung von home24 an der Börse bis gestern bei etwa 100 Millionen Euro lag. Das Unternehmen macht grob 600 Millionen Euro Umsatz im Jahr, wobei der in den nächsten zwei Jahren etwas zurückgehen dürfte, weil die Nachfrage nach Lifestyle-Produkten aktuell schrumpft. Die Kund:innen haben sich während der Coronapandemie bereits zur Genüge eingedeckt und können sich wegen der steigenden Inflation vieles nicht mehr leisten.
Dennoch war XXXLutz bereit, mehr als 100 Prozent Aufpreis auf den aktuellen Börsenkurs zu zahlen, was uns ein Gefühl dafür vermitteln kann, welches Potenzial in den Aktien steckt. Gestern habe ich einen Podcast mit BIKE24 aufgenommen – das ist auch ein riesiges Business, dass gerade noch mit einem Wert von 100 Millionen Euro an der Börse gehandelt wurde, während es mit fast einer Milliarde an die Börse gegangen ist. Das macht bei einem derart stabilen Geschäftsmodell inklusive schwarzer Null überhaupt keinen Sinn.
Die Bewertung durch XXXLutz entspricht einem Fair Market Value; die sind bereit, diesen Preis für home24 zu bezahlen und wenn sie mittelfristig orientiert sind, halte ich es nicht für wahrscheinlich, dass der Wert wieder um 50 Prozent einbrechen wird.
„Es kann natürlich immer nach unten gehen, aber eines Tages wird sich das Lifestyle-Segment wieder normalisieren.“
Ob wir schnell wieder zu der Bewertung von vor einem oder zwei Jahren zurückkommen, weiß ich allerdings nicht. Grundsätzlich ist die aktuelle Situation aber ausgezeichnet für alle, die am Aktienmarkt aktiv oder bereit sind, börsennotierte Unternehmen vom Markt zu nehmen.
Schahab Hosseiny: Wenn das Sentiment für Käufer:innen und Investor:innen aktuell gut ist, existiert dann in Deutschland ein Risiko dadurch, dass die Käufer:innen zurzeit aus dem Ausland kommen? Oder sind die deutschen börsennotierten Targets für ausländische Investor:innen nicht so spannend? Kartellrechtlich dürfte es wohl keine Probleme geben, weil es immer Amazon gibt – außer Amazon selbst kauft zu.
Alexander Graf: Das sehe ich nicht so kritisch.
„Es wird immer von einem Ausverkauf an Assets, Know-how und Technologie gesprochen, aber am Ende des Tages verkaufen diese Plattformen einfach viel an Kund:innen im DACH-Raum.“
Wenn wir annehmen würden, dass home24 nicht an XXXLutz, sondern an die Danube-Gruppe aus Dubai verkauft werden würde, dann würden wir dort in Zukunft andere Produkte sehen, die würden die Plattform mit viel Funding profitabel machen und vielleicht sogar ins Ausland expandieren. Aber einen Brain-Drain oder das Abwandern von Kapital würde ich nicht erwarten, weil der Markt im DACH-Raum trotzdem noch da ist und bedient werden möchte. Deswegen sehe ich da gar kein Risiko.
Wir leben in einem globalen Markt – viele Unternehmen aus Asien suchen den Zugang zum europäischen Markt. Trendyol kommt aktuell aus der Türkei zu uns, SHEIN tätigt große Investments in Bezug auf Lagerkapazitäten und Logistik. Europa ist nach wie vor ein extrem attraktiver Markt, der durch die Schwäche des Euros noch attraktiver wird. Amerikanische Investor:innen erhalten aktuell durch den Währungsverfall gewissermaßen einen Rabatt von 15 Prozent. Sofern der Markt in Bewegung ist und das auch zu einem guten Angebot für die Konsument:innen führt, sehe ich darin Chancen statt Risiken.
Corona und der E-Commerce – ein Blick in die Zukunft
Schahab Hosseiny: Gut, dass du das so entspannt siehst. Bleiben wir vorerst noch bei der Coronapandemie. In deren Zuge haben viele E-Commerce-Unternehmen in den Jahren 2020 und 2021, teilweise auch 2022 ein hervorragendes Geschäft gemacht – selbst diejenigen, die kein besonders gutes Geschäftsmodell haben. Dieser Effekt ist zwar noch nicht beendet, aber durchaus geschmolzen. Erwartest du einen ähnlichen Peak für den kommenden Winter oder werden wir diese Beschleunigung im E-Commerce so schnell nicht wieder sehen?
Alexander Graf: Meiner Einschätzung nach gibt es im Lifestyle-E-Commerce – damit meine ich Dinge, die kein Teil unseres täglichen Bedarfs sind – eine grundsätzliche Herausforderung und das gilt für home24 ebenso wie für Unternehmen wie ABOUT YOU und Zalando.
„Die Kund:innen werden es sich im kommenden Winter dreimal überlegen, ob sie für eine Winterjacke wirklich 300 Euro bezahlen möchten oder ob die aus dem letzten Jahr oder von KiK nicht reicht.“
Die Kund:innen kaufen weiterhin ein, aber sie migrieren zu günstigeren Anbietern. Wir haben viele Mid-Prize-Segment-Anbieter und wenige Online-Portale, die sich als Preisführende positioniert haben.
Der stationäre Handel hat meiner Meinung nach seine Bereinigungseffekte immer noch vor sich. Das sehen wir aktuell bei der angemeldeten Insolvenz von Görtz und das ist sicherlich erst der Anfang. Das wird im kommenden Winter wahrscheinlich reihenweise stationäre Händler:innen erwischen, die es verpasst haben, ihr Geschäftsmodell zu modernisieren oder für deren Angebot die Nachfrage nicht mehr besteht.
Schahab Hosseiny: Noch einmal zum E-Commerce und Corona – wir sprachen gerade darüber, dass 2021 für den E-Commerce ein ganz besonderes Jahr war. Warum schaffen es viele E-Commerce-Unternehmen nicht, im Jahr 2022 diese Stickiness herzustellen? Oder anders gefragt: Warum schaffen es viele nicht, ihre Kund:innenbasis richtig zu loyalisieren und sie in eine Customer Lifetime Value zu transformieren? Liegt das an der Mechanik oder ist das ein kulturelles Thema?
Alexander Graf: Das liegt daran, dass Kund:innen in der Regel nicht Händler:innen, sondern Leistungsangeboten gegenüber loyal sind. Sie erwarten ein bestimmtes Produkt in einer gewissen Preiskategorie zu bestimmten Lieferkonditionen – am besten morgen. Wo sie dieses Produkt kaufen, ist den Kund:innen eigentlich egal. Die Wechselwilligkeit und -fähigkeit ist größer als sich das viele Händler:innen wünschen und sie überschätzen die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Kaufabschlusses, nachdem die Kund:innen einmal etwas bei ihnen gekauft haben. Die kann mit einer positiven Kauferfahrung durchaus steigen, aber es kommt zu keinem Log-in. Das gilt auch für Amazon, die aktuell viele Kund:innen an Anbieter wie SHEIN oder ABOUT YOU verlieren.
„Die Kund:innen kommen einfach zu den Unternehmen, die die gefragten Produkte zu dem richtigen Preis anbieten.“
Schauen wir uns beispielsweise eine Nischen-Website wie PEARL an, auf der Elektronik-Gadgets verkauft werden. Die scheint im letzten Jahrtausend hängen geblieben zu sein, aber die Kund:innen gehen da trotzdem hin, wenn die ein attraktives Angebot haben. Dennoch wird der automatisch bestellte Newsletter nicht besonders gut konvertieren.
Vielen Anbietern ist es nicht gelungen, ihr Angebot spannend und exklusiv zu machen. Die Fashion-Händler:innen haben das nicht geschafft, weil sie keine starken Eigenmarken aufgebaut haben. Zalando hat sich in diesem Markt mit seinen Z-Labels größtenteils zurückgezogen und ist doch wieder stark auf das Thema Marken gegangen und jetzt versuchen sie, über Anbieter wie C&A die günstigen Einstiegsmarken in ihr Sortiment reinzubekommen. Auch bei ABOUT YOU hat das nur zu einer limitierten Größenordnung geführt, wo jetzt mehr Influencer-Marken drin sind.
Anderen Anbietern gelingt das besser. Das liegt nicht an dem E-Commerce-Modell, sondern an der Exzellenz, mit der das Modell betrieben wird und mit der Kund:innen gebunden und aktiviert werden.
Die Zeit für Personalisierung und das Metaverse ist noch nicht gekommen
Schahab Hosseiny: Das ist ein spannender Hinweis. Was ist denn mit den Themen Hyperpersonalisierung oder Personalisierung im Allgemeinen? On-Site-Personalisierung ist zwar technisch möglich, ich beobachte aber kaum die tatsächliche praktische Anwendung. Kann sich das im Verlauf von 2023 noch ändern?
Alexander Graf: Personalisierung ist schon seit 2012 ein Thema und wird es in den nächsten zehn Jahren bleiben. Es scheint über die verfügbaren Desktop-Möglichkeiten in Bezug auf echte Individualisierung sehr begrenzt zu sein.
„Wenn ich beispielsweise auf die Website von Zalando gehe und eingeloggt bin, sollte ich nur Artikel für Herren in meiner Größe sehen, vielleicht auch nur in meinen Lieblingsfarben. In der Praxis sehe ich dieselben Banner wie alle anderen auch, wovon viele überhaupt nicht zu meinem Kaufverhalten passen, obwohl sie bereits über meine Daten verfügen. Entweder ist Personalisierung nicht einfach genug oder es konvertiert nicht gut genug.“
Auf mobilen Geräte funktioniert das besser, wenn wir nicht über einen Web-Shop, sondern zum Beispiel über einen WhatsApp-Kanal sprechen. Dieser Concierge-Service funktioniert nicht für jede Kategorie, aber bei einigen besser als eine klassische Website. Zusammenfassend sehe ich in der Personalisierung noch einen großen Hebel, aber grundsätzlich erzählt unsere Branche schon seit zehn Jahren Ammenmärchen darüber – wie aktuell auch über das Metaverse. Die scheint für die Kund:innen wesentlich irrelevanter zu sein, als wir es uns eingebildet haben.
Wahrscheinlich sind die Seiten zurzeit froh, dass sie ihre Websites mittlerweile so sortieren können, dass die Produkte mit dem höheren Deckungsbeitrag weiter oben und die ausverkauften nicht mehr auffindbar sind. Allein dafür hat unser Markt schon Jahre gebraucht, deswegen scheint für mich auch im Jahr 2023 noch nicht das Licht am Ende des Personalisierungstunnels erreicht zu sein.
Schahab Hosseiny: Du hast eben das Metaverse angesprochen. Das sollte heute eigentlich kein Thema sein, aber du hast es im selben Atemzug erwähnt wie die Ammenmärchen. Wenn ich mich richtig erinnere, beschäftigst du dich auch privat damit, ich habe ein Bild von dir mit VR-Brille im Kopf. Glaubst du gar nicht an das Thema oder meinst du nur, dass der Hype zu groß ist?
Alexander Graf: Ich verbringe keine Zeit im Metaverse – dafür gibt es ja ohnehin noch keine Definition. Aber natürlich beobachte ich ein Anwachsen des Spielemarkts, aktuell ist der 180 Milliarden US-Dollar stark und die Menschen verbringen dort immer mehr Zeit und sind bereit, Geld dafür auszugeben. Man trifft sich dort mit Freund:innen und verbringt Zeit in dieser Multiplayer-Welt, die natürlich unterschiedlich interpretiert wird; Facebook sieht anders aus als Roblox.
Ich glaube also durchaus an den Markt, schließlich ist das nötige Geld schon da. Allerdings glaube ich nicht, dass dieser Markt entsteht, weil Konzerne wie Facebook oder Microsoft eine Online-Messehalle dort bauen, auf der sie ihre digitalen Produkte verkaufen.
„Der Markt rund um das Metaverse entsteht über die Gaming-Industrie, die immer mehr Konsumzeit auf sich allokieren und echtes Geld in Form von Micro-Tokens aus den Taschen der Konsument:innen ziehen kann.“
Da kann ich nur jeder und jedem die Sendung von Jan Böhmermann im Rahmen des ZDF Magazin Royale ans Herz legen, in der er aufgezeigt hat, welches Volumen das In-Game-Revenue schon hat. Und wenn man schon so viel Geld für Spiele ausgibt, verleitet das natürlich dazu, noch mehr Zeit in diesem Spielekosmos zu verbringen.
Alle gegen Amazon – wie sich Innenstädte und der Online-Handel wehren können
Schahab Hosseiny: Eine schöne Referenz, Jan Böhmermann hat in seiner Sendung den Log-In-Effekt wunderbar dargestellt. Lass uns die Metaebene verlassen und zurück zum deutschen E-Commerce kommen. Weltweit erleben wir nahezu täglich, dass digitale Unternehmen immer stärker in den Fokus der Politik geraten und reguliert werden. In Deutschland gibt es immer wieder Stimmen, die Regulierungen des E-Commerce unter anderem zugunsten des Erhalts der Innenstädte fordern. Was hältst du davon und müsste es nicht sogar „Alle gegen Amazon“ heißen?
Alexander Graf: Diesen Umstand hat Amazon schon selbst erzeugt, gegen die konkurrieren jetzt schließlich alle.
„Wer mag schon Amazon? Doch nur die Aktionäre, die früh genug eingestiegen sind.“
Ansonsten hat es sich Amazon mit nahezu allen Handelspartner:innen verscherzt, die nicht gerade als Händler:innen auf deren Plattform groß geworden sind, viel Geld verdient haben und früh genug ausgestiegen sind. Weder die Dienstleistenden noch die Händler:innen oder Partner:innen haben eine langfristige Win-win-Situation mit Amazon; die Plattform gewinnt immer. Die „Alle gegen Amazon“-Strategie besteht mithin automatisch, dafür muss man sich nicht an einen Tisch setzen. Wir orchestrieren sie bloß nicht gut genug, etwa weil wir Amazon nicht ausreichend besteuern oder weil nach wie vor Fake-Produkte über den Marktplatz verkauft werden können, die für Kund:innen wie für Händler:innen mit ähnlichen Angeboten ein Ärgernis darstellen.
Dieses Thema rund um die Innenstädte mag ich gar nicht mehr kommentieren. Das schaue ich mir an, finde diese Aktionen ganz niedlich und verstehe auch, dass die städtischen Marketing-Gesellschaften etwas unternehmen müssen, um dem Leerstand in den Innenstädten entgegenzuwirken. Das hat aber wenig mit Amazon oder dem Online-Handel zu tun, sondern mit dem Mangel an attraktiven Angeboten in den Innenstädten. Online-Händler:innen kann das ebenso passieren – wenn es kein gutes Angebot gibt, kommen die Kund:innen auch nicht. Wahrscheinlich haben die Shopping-Zentren viel stärker zur Zerstörung der Innenstädte beigetragen.
Gute Innenstädte bauen mittlerweile um und integrieren mehr Cafés, Restaurants und Wohngebäude. Dermaßen große Steuerzahler:innen sind die üblichen Verdächtigen in den Innenstädten, wie Karstadt und Co., auch nicht mehr, deswegen geht die Initiative meiner Meinung nach in die falsche Richtung. Aber es hilft nicht, dagegen zu argumentieren, weil alle Beteiligten ihre jeweiligen politischen Interessen haben oder von den Händler:innen vor Ort bezahlt werden. Es ist in Ordnung, sich dafür einzusetzen. Große Erfolgschancen sehe ich für dieses Vorhaben allerdings nicht.
Schahab Hosseiny: Du berichtest immer wieder von L&T in Osnabrück – wo ich mich übrigens auch aktuell befinde –, die für fast 35 Millionen Euro eine stehende Surfwelle in ihr Sporthaus installiert haben. Das sieht ziemlich cool aus und ist sicherlich einzigartig. Würdest du so etwas als Betreiber eines regionalen Kaufhauses auch tun oder was wäre dein Ansatz? Und falls dein Ansatz eher in Richtung der Omnichannel Experience geht, würde mich interessieren, ob es dafür schon ein praktisches Vorzeigebeispiel gibt.
Alexander Graf:
„Man muss sich fragen, wann Omnichannel überhaupt Sinn ergibt. Das ist nicht der Fall, wenn man Kund:innen zum Abholen eines Pakets in die Innenstadt locken möchte, sondern es muss etwas eingespart werden – wie Transportkosten.“
Deshalb ist Omnichannel besonders für Baumärkte sinnvoll, weil der Versand von Zement oder Holz teuer ist und lange braucht. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Produkte im Baumarkt abzuholen. Omnichannel-Ansätze mit stationären Touchpoints für Retouren, Beratungen oder Installationen können durchaus sinnvoll sein, die meisten Cases sind es aber nicht. Die würden viel besser und kosteneffektiver funktionieren, wenn man die Produkte aus einem zentralen Lager verschicken würde. Die entstanden, um die Kund:innen zurück in die Läden zu bringen, wodurch denen aber kein Vorteil erwächst. Wer geht schon gerne in einen Laden? Dafür muss man den Wohlfühlraum Wohnzimmer verlassen, in die Stadt fahren, einen Parkplatz suchen und zum Laden laufen.
Und wenn die Erfahrung vor Ort besonders gut ist, benötigt man auch keinen Omnichannel. Einen Erdbeerhof besucht man nicht, weil man da die vorher bestellte Erdbeermarmelade abholen kann, sondern weil man Trecker fahren und Erdbeeren pflücken kann. Jetzt habe ich den ersten Teil der Frage schon wieder vergessen.
Schahab Hosseiny: Die drehte sich darum, wie du besagtes regionales Kaufhaus in Osnabrück betreiben würdest.
Alexander Graf: Ach ja, genau. Was Mark Rauschen – der Geschäftsführer von L&T – und seine Kolleg:innen tun, finde ich sehr beeindrucken. Ich habe mir das angeschaut und die waren auch im Podcast zu Besuch.
„Natürlich ist die stehende Welle ein cooles Feature – die Frage ist nur, wie lange das cool ist.“
So eine stehende Welle benötigt eigentlich eine Abschreibungszeit von 20 Jahren. Ich finde gut, dass die ein eigenes Geschäftsmodell hat – man muss nämlich für ihre Nutzung bezahlen und so ist gewissermaßen eine Event-Fläche entstanden.
Dennoch kann schnell ein Abnutzungseffekt eintreten. Das kann man bei den Globetrotter-Läden sehen, wie dem in Hamburg, der einen Kajak-Fahrstuhl hat, in dem man Kajaks im Wasser ausprobieren kann. Der Trend hat zwei Jahre lang gut funktioniert und hat einige Journalist:innen angelockt, die gerne Fotos davon gemacht haben. Ich fand das auch interessant, aber die Fläche war einfach nicht flexibel genug. Es ist zu schwierig, das umzubauen, neu zu gestalten und wieder interessant zu machen.
Hoffentlich funktioniert das in Osnabrück – die haben etwas andere Voraussetzungen, weil sie diesen inneren Kern von Osnabrück kontrollieren und viel in den Bereichen Restaurants, Getränke und Co. getan haben, um weiterhin ein attraktives Angebot bereitstellen zu können und so schaffen sie es, die lokale Kaufkraft auf sich zu vereinen. Die Seitenstraßen, die von L&T wegführen und die nicht mehr zu diesem Kern gehören, sind wahrscheinlich auch schon vom Leerstand betroffen.
Schahab Hosseiny: Bleiben wir bei den Innenstädten. Würdest du die Hypothese unterschreiben, dass Verfügbarkeit die Brand-Loyalität schlägt?
Alexander Graf: Ja, auf jeden Fall. Nespresso ist dafür ein gutes Beispiel – die Kapseln für deren Maschinen kann man inzwischen schließlich überall kaufen. Wenn man jetzt auf deren Website neue Kapseln kaufen möchte und der Shop nicht funktioniert, geht man natürlich ohne schlechtes Gewissen sofort zu Rewe oder Starbucks. Und das gilt für viele Produkte.
Ich bestelle zum Beispiel ziemlich viel bei Amazon, aber viele Produkte finde ich nicht mehr und vertraue auch dem Algorithmus nicht mehr, dass er mir wirklich gute Produkte anzeigt. Da geht es also nicht einmal um die Verfügbarkeit oder dass sie ihr Logistikversprechen eigentlich nicht mehr einlösen können, sondern um das Auffinden von Produkten. Und dann gehe ich lieber zu anderen spezialisierten Plattformen, die ein besseres Qualitätsmanagement haben.
Schahab Hosseiny: Wie stark bist du denn im Log-In von Amazon gefangen?
Alexander Graf: Sehr stark. Dort kaufe ich alle No-Brainer-Produkte wie aufladbare Batterien.
Schahab Hosseiny: Und nutzt du auch Services wie Alexa oder den Fire TV Stick?
Alexander Graf: Ja, das nutze ich, und meine Kinder ebenso, davon habe ich sogar mehrere. Letztens habe ich außerdem ein Nachtlicht gekauft, das man in die Steckdose steckt und mit dem man auch nachts durch den Flur wandern kann. Das ist ein Produkt, bei dem ich das erste Angebot wähle, das mir angezeigt wird. Dasselbe gilt für Dichtungsband, Corona-Schnelltests oder Nasenspray. Die könnte ich mir auch in der Apotheke kaufen, wo sie vielleicht 50 Cent billiger sind und für das Dichtungsband hätte ich natürlich zum Baumarkt gehen können.
Dennoch merke ich, dass ich zunehmend bereit bin, auf andere Portale zu gehen. Letztens habe ich Laufkopfhörer für meine Frau gekauft, die ich unbedingt von Huawei haben wollte, weil sie die besten Testergebnisse vorweisen konnten. Die gab es nicht bei Amazon, also habe ich sie in einem Geschäft gekauft.
Welchen Preis bezahlen wir für schnelle Lieferungen?
Schahab Hosseiny: Wahrscheinlich halten dich die weiteren Services dennoch davon ab, Amazon endgültig den Rücken zu kehren. Sonst könntest du deine Alexas oder den Fire TV Stick nicht mehr nutzen, was den anderen E-Commerce-Unternehmen gegenüber ein wirklich unfairer Vorteil ist.
Lass uns auf eine relativ aktuelle Analyse aus Kanada schauen, die zusammen mit FedEx den E-Commerce mal unter die Lupe genommen hat. Die besagt, dass der größte Pain Point in Kanada darin besteht, dass die Ware nicht früh genug ankommt. Ich weiß natürlich nicht, ob sich das auf Deutschland oder Europa übertragen lässt. Hier hat Amazon seine eigene Logistik aufgebaut und hat dadurch wahrscheinlich auch einen unfairen Vorteil – wobei du gerade gesagt hast, dass das bei dir nicht funktioniert. Wie müssen sich die deutschen E-Commerce-Unternehmen deiner Einschätzung nach aufstellen? Ich lebe relativ ländlich und bei mir klappt das mit der Lieferung bei Amazon eigentlich ziemlich gut.
Alexander Graf: Bei mir ist das ähnlich. Man muss die Logistik natürlich aufbauen, denn als Kund:innen haben wir uns an ein gewisses Service- und Verfügbarkeitslevel gewöhnt, das man nur mit spezialisierten Lagern gewährleisten kann. Deswegen sehen wir immer mehr von diesen Warehouses in Europa, die teilweise auch von asiatischen Anbietern gebaut werden. Viele etablierte Unternehmen bauen ihre Lager in der Nähe von Hannover, weil man von dort große Teile des zentraleuropäischen Markts innerhalb von 24 Stunden bedienen kann.
Bei mir ist das nächste große Lager 20 Kilometer entfernt und der Rest kommt mit GLS oder DHL. Interessanterweise war DHL anfangs froh, dass Amazon seine Logistik ausgebaut hat, weil die keine Kapazitäten für die vielen Pakete hatten. Aber ohne Warehouse geht es nicht mehr. Deshalb glaube ich auch nicht an die Click&Collect-Konzepte.
Schahab Hosseiny: Wo wir gerade über Logistik sprechen, schauen wir uns mal den sogenannten Quick Commerce und Unternehmen wir Gorillas an. Für Nahrungsmittel funktioniert das bereits ausgezeichnet, aber siehst du in Deutschland einen weiteren Markt, in dem Kund:innen einen höheren Preis für eine besonders schnelle Lieferung zahlen würden?
Alexander Graf: Bei der schnellen Lieferung beziehungsweise der Lieferung nach Hause geht es um Convenience, die in einer Zeit steigender Inflation einer kleinen Gruppe von Menschen vorbehalten ist. Den meisten Menschen sind auch 50 Cent Liefergebühr zu teuer, die fahren lieber selbst zum Lidl oder ALDI. Exklusive Lieferfähigkeiten beziehungsweise spezialisierte Lieferdienste gibt es durchaus, bei Möbelmärkten kann das beispielsweise sinnvoll sein.
AO hat dagegen gezeigt, dass die spezialisierte Lieferung für Geräte wie Wasch- und Spülmaschinen nur eine begrenzte Zahlungsbereitschaft erfährt. Deshalb hat sich das Unternehmen mittlerweile aus dem deutschen Markt zurückgezogen, obwohl sie hier bereits über 150 Millionen Euro Umsatz gemacht haben. Zusammenfassend würde ich deshalb sagen, dass die Kund:innen eher nicht bereit sind, Premium-Preise für Premium-Lieferungen zu bezahlen.
Die Vor- und Nachteile der Nutzung von Marktplätzen
Schahab Hosseiny: Dann lass uns weiter machen mit den Aktivitäten rund um den Amazon Marketplace. Es gibt immer mehr Marktplätze, etwa von Douglas oder OTTO. Laufen E-Commercler:innen Gefahr, ihre eigenen Aktivitäten beispielsweise durch Search-Anzeigen zu kannibalisieren. Hast du Tipps für Menschen, die E-Commerce-Shops betreiben. Ist das Motto „viel hilft viel“ oder sollte man selektiv vorgehen? Nike ist ein Beispiel für ein Unternehmen, das bei der Auswahl seiner Marktplätze sehr wählerisch ist.
Alexander Graf: Am Ende des Tages gewinnen diejenigen mit dem besten Zugang zu den Kund:innen. Wenn man sich diesen Zugang auf Marktplätzen einkaufen muss, wird man langfristig Logistiker:in. Wenn man in der eigenen Kategorie langfristig mit Logistik Erfolg haben kann, kann das Nutzen von Marktplätzen sinnvoll sein. Man verliert aber zwangsläufig, wenn man auf den Zugang zu den Kund:innen angewiesen ist und ihn immerzu bei einer Plattform mieten muss.
„Dass eine passive D2C-Strategie nicht ausreicht, haben die meisten Unternehmen spätestens während der Coronapandemie gelernt, als sie mit ihren Lieferungen nicht hinterhergekommen sind und daraufhin von Amazon weniger priorisiert wurden.“
Der Schlüssel ist exklusive Distribution – entweder durch die Auswahl weniger Partner:innen oder durch die Kontrolle mehrerer Partner:innen.
Wie du sagst, macht Nike das aktuell vor, indem sie ihre Partner:innen am langen Arm verhungern lassen. Das können sie sich leisten, weil nach wie vor etwa 40 Prozent aller Sneaker bei Nike gekauft werden und weil ihre Brand und Kooperationen so stark sind. Interessant wird es, falls der Wholesale-Anteil von Nike mal unter 30 Prozent fällt. Dann stellt sich die Frage, wie leicht sie noch ein Bewusstsein für ihre Marke schaffen können.
Damit kommen wir wieder auf den Medienkonsum zu sprechen. Wenn der weiter steigt, ist der Werbeeffekt von Kooperationen mit Personen wie Jay-Z, die eine kurze Story auf Instagram posten, höher als der des Nike-Stores in der Hamburger Innenstadt. Daran laufen zwar 70.000 Leute pro Tag vorbei, aber die haben kein zwangsläufiges Interesse an der Marke. Wer aber eine Story von Jay-Z und Nike schaut, bringt bereits ein Grundinteresse mit. Deshalb glaube ich, dass viele Unternehmen auf den Handel verzichten werden.
Schahab Hosseiny: Du hast eben D2C angesprochen, bei Spryker seid ihr zudem stark im Bereich B2B unterwegs. Als ein recht spezielles Unternehmen würde ich mir mit dir gerne Tesla anschauen. Die sind fast ausschließlich im D2C-Bereich aktiv und dementsprechend möchten nun auch andere Autohersteller stärker in diesen Bereich investieren – mit der Umsetzung lassen sie allerdings auf sich warten. In welcher von B2B dominierten Branche siehst du sonst noch einen starken Nachholbedarf in Sachen D2C? Kannst du vielleicht sogar Unternehmen nennen, die deiner Ansicht nach großes Potenzial in dieser Hinsicht hätten?
Alexander Graf: Man muss bei dieser Frage etwas differenzieren. Zunächst gibt es Branchen, die insgesamt über einen geringen E-Commerce-Anteil verfügen. In Deutschland ist das erstens die Lebensmittelbranche mit einem E-Commerce-Anteil von etwa zwei Prozent. Dabei wäre die Hälfte der Konsument:innen bereit, online Lebensmittel einzukaufen, falls das Angebot gut genug ist.
Die zweite Branche ist die Automobilindustrie, die weiterhin weniger als zwei Prozent ihrer Produkte online verkauft. Diese Quote ist natürlich so gering, weil es in Deutschland noch so viele Autohändler:innen gibt. Aus der Sicht der Automobilhersteller macht deren Existenz strategisch aber keinen Sinn. Die Hersteller sind natürlich auf Werkstätten und Auslieferer angewiesen, aber die Marge der Händler:innen könnten sie selbst einstreichen. Das neue Auto könnte man direkt zur Haustür liefern oder bei Sixt abholen lassen, dafür benötigt man keine Filiale.
„Die Lebensmittelbranche und die Autoindustrie sind meiner Ansicht nach die beiden Bereiche, in denen wir in den kommenden Jahren eine starke Bewegung in den E-Commerce sehen werden.“
Wenn wir die Bewegung zwischen D2C und Wholesale innerhalb des E-Commerce betrachten, müssen wir einen Blick auf die großen Kategorien werfen. Das ist zum einen Fashion, wo jedenfalls die großen Marken wie Nike schon zu neuen Ufern aufbrechen. Marken wie Adidas, die nicht so stark in D2C investiert haben, erleben aktuell ein Einbrechen ihrer Umsätze. Dort ist die Experience schlechter, weil die Stores sich nicht mehr nach Qualität anfühlen, alles langsamer passiert, nicht individuell genug ist und weil die App nicht richtig funktioniert. Es gibt aber auch andere Bereiche mit einem hohen Wholesale-Anteil – wie den DIY-Bereich, in dem nur wenige Hersteller direkt verkaufen.
Das Ringen zwischen D2C und Wholesale ist eine natürliche Bewegung. Wenn Märkte nicht mehr als zehn Prozent organisch wachsen, setzen die Händler:innen immer stärker auf Eigenmarken und die Hersteller müssen sich dementsprechend darüber Gedanken machen, wie sie sich den Zugang zu den Kund:innen sichern können. Dieser Wettbewerb wird nie aufhören, sondern es wird immer eine Wellenbewegung geben.
Schahab Hosseiny: Mit welchen Themenkomplexen aus dem E-Commerce wirst du dich in den nächsten Monaten auseinandersetzen und warum?
Alexander Graf:
„Aktuell interessiert mich die Digitalisierung der B2B-Branche.“
Das ist schließlich das Kerngeschäft von Spryker – wir sind global die führende Lösung für B2B-Unternehmen mit ausgereiften Customer Journeys und die einzige Plattform, mit der man ohne Hinzuziehen einer weiteren Plattform Marktplätze bauen kann. Deshalb beschäftige ich mich intensiv damit, in welchen Bereich Unternehmen überhaupt neue Marktplätze schaffen können, wie lange das dauert und wo kritische Massen zwischen Angebot und Nachfrage entstehen.
Des Weiteren interessiere ich mich dafür, wie es in den Märkten vorangeht, die nicht von den vielen aktuellen Krisen – Krieg, Inflation, Corona, Energiepreise – betroffen sind. In diesem Zusammenhang blicke ich speziell nach Asien und in die Golfstaaten, wo die Möglichkeiten viel besser zu sein scheinen. Dabei helfen mir die Podcasts Kassenzone und Commerce Talks, für die ich zwei- bis dreimal pro Woche mit Menschen spreche, die teilweise aus anderen Industrien kommen. Bei diesen Gesprächen werde ich immer wieder auf neue Themen gestoßen.
Schahab Hosseiny: Wie du angesprochen hast, ist deine Perspektive eine globale. Welches sind die drei E-Commerce-Unternehmen, die uns im Jahr 2023 positiv überraschen werden?
Alexander Graf: Ob sie uns positiv überraschen werden, weiß ich nicht, aber SHEIN werden mit ihrem meiner Meinung nach fragwürdigen Geschäftsmodell „Super Fast Fashion“ einen massiven zusätzlichen Marktanteil gewinnen. In Deutschland werden wir außerdem im Bereich Fashion noch viel von Trendyol hören und dasselbe gilt für einige Lebensmittelanbieter, deren Namen ist aber noch nicht nennen kann. Die haben jetzt verstanden, wie Picnic, Knuspr und GORILLAS funktionieren und werden in der Lage sein, ihre Kund:innen über eigene Portale in derselben Weise zu bedienen.
Schahab Hosseiny: Toll. Alex, mir hat unser Gespräch großen Spaß gemacht. Herzlichen Dank.
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