Alexander Graf ist Gründer und CEO von Spryker, der führenden transaktionalen Cloud-native Plattform für B2B, Enterprise-Marktplätze, Unified Commerce und B2C. Daneben ist er schon seit 2008 Herausgeber des renommierten Blogs kassenzone.de, auf dem er auch regelmäßig Podcasts und Commerce Talks veröffentlicht.
Als ein mit allen E-Commerce Wassern gewaschener, alter Hase gilt er als Koryphäe auf diesem Gebiet, dessen Stimme und Meinung Gewicht hat. OMKB Host Schahab Hosseiny hat ihn im Rahmen der OMKB im Oktober 2020 zum Wechsel des Firmennamens, dem rasanten Wachstum von Spryker und zu verschiedenen Entwicklungen auf dem E-Commerce-Markt interviewt.
Video mit Alexander Graf
Schahab Hosseiny: Servus Alex, schön, mit Dir zu reden. Ich kenne Spryker tatsächlich noch aus der Zeit, als es Kryllo hieß. Laß’ uns deshalb mit Deiner Vergangenheit anfangen, und über die Gegenwart in die – hoffentlich tolle – Zukunft blicken.
Aus „Kryllo“ wurde „Spryker“
Ich habe mal einen kurzen Check beim DPMA durchgeführt und gesehen, dass der Name Kryllo nicht markengeschützt ist. Ich finde den Namen eigentlich recht cool. Warum wurde er verworfen? Warum habt ihr Euch für “Spryker” entscheiden?
Alexander Graf: Wir hatten eine Namensagentur aus Kiel gewählt, die uns eine Liste mit vierzig Namen vorgelegt hatte. Die Ansage war, dass die dazugehörige dot-com Domain noch frei sein sollte und für das Thema Software noch die Schutzklasse erhältlich war. Wir haben uns also die Liste angeschaut und uns für Kryllo entschieden, hauptsächlich, weil der Name schön kurz und knackig war.
Die dot-com Domain war frei und so ein Doppel-L und ein O im Namen, das war zu der Zeit modern. 2014 waren wir dann bei ein, zwei Kundenterminen und da war es so, dass die immer von unserer Firma “Krillo” oder “Kreillo” gesprochen haben.
Wir bekamen das Feedback, dass Cry zusammen mit Low eigentlich ein total doofer Name ist, der für einfach nichts steht. Also haben wir uns die Liste der Namensagentur nochmal angeschaut und uns für Spryker entschieden. “Spry” bedeutet ja agil und frech im Englischen und das ganze Thema Agilität ist ja auch mit unserer Software verbunden. Also haben wir gesagt, okay, wir verabschieden uns von Kryllo.
Jeder, der schon einmal in einem Markenprozess drin war, kennt das: Den Namen suchen und die passende Domain finden ist erst der Anfang. Es ist echt die Hölle, man kann es keinem recht machen. Jeder hat seine eigene Meinung dazu und ein Feedback vom Markt gibt es am Anfang auch nicht wirklich. Aber ich glaube, mit Spryker haben wir es ganz gut getroffen.
Man muss auch fairerweise sagen, dass wir uns unseren Wettbewerb natürlich auch angeschaut haben. Wenn also einer unserer größten Mitbewerber, SAP, die eigene Suite “Hybris” nennt, dann scheint der Name ja nicht ausschlaggebend für den Erfolg des Produktes oder Unternehmens zu sein. Deswegen darf man das einfach nicht überbewerten.
Podcast mit Alexander Graf
Schahab Hosseiny: Du trauerst der Marke tatsächlich nicht hinterher!
Alexander Graf: Kryllo? Nein! Ich glaube, wir brauchen auch keinen Markenschutz. Wir haben noch die dot-com Domain, vielleicht noch ein paar weitere. Wenn also jemand Interesse haben sollte, der hier zuhört und sich sagt, hm, ich habe hier so einen Service für traurige Menschen und eine Website, auf der man sich aufmuntern lassen kann, da könnte “Kryllo” zu passen… sag’ Bescheid!
Schahabs Recherche hat gezeigt, dass die Silicon Valley Bank Santa Clara, USA, die Markenrechte an “Spryker” hält. Alexander erklärt, wie die Mechanismen der Kapitalvergabe im Fall von Spryker funktionieren. Kapitalgeber würden sich in der Regel IP-artige Rechte sichern, die im Fall des Unternehmensversagens verpfändbar sind.
Das Interview verlagert sich auf die Frage, was denn der erste Touchpoint Alexanders mit E-Commerce gewesen ist. Nach kurzer Überlegung erzählt er vom Verkauf von Tickets für große Abi-Feiern aller Kieler Schulen in den 90er-Jahren und seinen ersten Programmierschritten in PHP, um diese Tickets über die Eventfirma online verkaufen zu können.
Alexander erwähnt auch die ersten Transaktionen über eBay oder guenstiger.de. Er will bei Gelegenheit mal in seinen E-Mails graben, um diese Frage auch für sich beantworten zu können.
Triple A Hiring und kurze Entscheidungswege – Auf das Netzwerk kommt es an
Schahab Hosseiny: Gehen wir in die Gegenwart, Alex. Ihr legt ja ein wahnsinniges Tempo hin, was das Hiring von Triple A Mitarbeitern angeht, würde ich sagen. Ihr habt jetzt People von SAP, Salesforce oder Oracle bei euch im Team.
Was mich natürlich interessieren würde: Ziehst Du jetzt bewusst mehr Tech-Konzern Expertise und Kompetenz bei euch in die Organisation? Du kennst die aktuellen Zahlen natürlich besser als ich, aber ich schätze, bei Euch arbeiten rund 200 Leute.
Hochkaräter, die aus den sechs großen Tech-Konzern-Strukturen kommen. Also zwei Fragen: Was macht das mit der Organisation? Und baust Du jetzt ganz bewusst auch nochmal ein starkes übergeordnetes Management mit Tech-Konzern Erfahrung bei Spryker auf?
Alexander Graf: Wir brauchen Konzernerfahrung, aber natürlich nicht im Sinne von “Wie funktioniert ein Org-Chart im Konzern?”. Spryker wächst ja deshalb so schnell und ist auch so erfolgreich, weil wir eben nicht diese Konzernstrukturen haben. Das ist der große Vorteil eines Start-Ups. Die kurzen Wege und schnellen Entscheidungen.
Was man sich also eher einkauft, sind ein Netzwerk und Expertise. Das kann im Bereich Sales sein, das kann im Produktbereich sein, das kann auch das Partnermanagement sein. Und wenn Du Leute hast, die schon seit zehn, zwanzig Jahren in der Industrie wildern, jeden kennen, dann gibt es sehr, sehr viele Ansätze.
Wie baut man ein Partnerprogramm auf, oder wie incentiviert man vielleicht den Kunden, sich nochmal einen Produkt-Pitch anzuschauen? Das sind wertvolle Leute, die auch teuer sind.
„Wir suchen Leute mit sehr viel Erfahrung, die frei von Ego sind, die etwas schaffen und die nächsten fünf bis zehn Jahre Gas geben wollen.„
Wir achten explizit darauf, dass wir uns Ego-freie Leute ins Team holen. Tatsächlich scheiden die meisten Bewerber bei uns aus diesem Grund aus: Sie sind zu sehr von sich überzeugt, haben die typische Konzernmentalität und reagieren im schlimmsten Fall zu langsam.
Wir suchen Leute mit sehr viel Erfahrung, die frei von Ego sind, die etwas schaffen und die nächsten fünf bis zehn Jahre Gas geben wollen. Das hat natürlich Einfluß auf die Organisation.
Der Anspruch, den mein Co-CEO und ich bei der Einstellung von Mitarbeitern haben – gerade beim ersten Management-Layer unserer C-Suite – ist einfach: Sie müssen besser sein als wir. Nicht wir müssen ihnen erklären, wie wir verkaufen oder expandieren wollen. Die müssen uns das erklären, uns an die Hand nehmen und Geschwindigkeit rein bringen.
Das ist übrigens auch eine Forderung unserer Investoren, die in den nächsten Runden immer zentraler werden wird. Das Unternehmen darf irgendwann nicht mehr nur vom Gründerteam abhängig sein. Es muss quasi ein skalierbares Management-Setup geben, mit ganz klaren Incentives, die nicht mehr nur an den Gründern hängen. Auch das beeinflusst die Organisation.
Ich glaube, mit die größte Herausforderung für eine Organisation, die so schnell wächst und ihre Führungskräfte, ist der Umstand, dass nicht jeder am Ball bleibt. Jemand, der vielleicht mal als Chef für das Thema XY angefangen und sich nicht schnell genug weiterentwickelt hat, kann da auf der Strecke bleiben. Dazu noch das Thema Expertise, das permanente Austauschen, dieses ständige neu organisieren. Das ist für viele sehr anstrengend.
Aber das ist auf der anderen Seite eben auch die Kultur, die wir incentivieren. Wir müssen uns permanent neu erfinden, denn das ist Teil unseres Erfolges. Das ist der Grund dafür, warum wir schneller und effizienter als andere sind, warum wir mehr in unsere Produkte stecken können als vielleicht ein Mitbewerber.
Ich glaube, Wachstum mit den dazugehörigen neuen Zielen hat einen sehr großen Einfluß auf jede Organisation und ihre Menschen. Wir sind immer geneigt, so ein Plateau zu finden, auf dem wir uns ausruhen können und uns nicht jeden Tag neu erfinden müssen. Ein Startup liegt nicht in der Natur des Menschen oder des klassischen Mitarbeiters. Das muss man ganz klar sagen, um niemanden in den Burnout zu treiben.
„Denn es ist eine Sache zu sagen, wir haben eine offene Feedbackkultur und jeder kann alles sagen, was er will. Es ist aber etwas völlig anderes, das auch umzusetzen und den Leuten die Freiheit zu geben, Fehler machen zu dürfen.“
Als Gründer ist es deshalb auch unsere Aufgabe, eine Kultur zu schaffen, in der das halt funktioniert. Denn es ist eine Sache zu sagen, wir haben eine offene Feedbackkultur und jeder kann alles sagen, was er will. Es ist aber etwas völlig anderes, das auch umzusetzen und den Leuten die Freiheit zu geben, Fehler machen zu dürfen. Und das ist alles andere als einfach, da bin ich ganz ehrlich.
Denn auch wir stehen unter hohen Zielerwartungen seitens der Shareholder. Aber das ist für mich die einzige Möglichkeit, in solch einem, sich immer wieder schnell neu erfindenden Setup die Spur zu halten.
Schahab Hosseiny: Das heißt, ihr versucht schon im Hiring-Prozess für die C-Level-Suite, wie Du sie so schön genannt hast, bei den Konzernleuten tendenziell eher diejenigen zu berücksichtigen, die mit wenig Schachspieler-Avancen bei Euch aufschlagen, weil das das eurer DNA nicht entspricht. Okay, Haken dran.
Wie geht ihr mit dem Thema Culture um? Also habt ihr bei euch in der Organisation wirklich das Thema Culture dezidiert so aufgesetzt, dass das ein Bereich von HR ist? Das ist ja auch ein Thema, das sehr stark von den CEOs abhängt. Denn Du hast ja völlig recht: Ihr seid in einem permanenten Transformationsverfahren. Und als Taxifahrer kannst Du mit Sicherheit auch nicht jeden mitnehmen.
Oder ist es eher mit Blick nach vorne etwas, bei dem Du sagst, dass Ihr Euch damit in naher Zukunft intensiver beschäftigen werdet, damit eben auch die Themen Employer Branding und Arbeitgebermarke noch stärker gefördert werden?
Alexander Graf: Also grundsätzlich glaube ich, dass Du Kultur nicht vorgeben kannst und auch, dass Kultur keine Ursache für Unternehmenserfolg ist. Kultur ist ein Effekt, wie Du mit Mitarbeitern umgehst, wie Du sprichst, wie Du dich verhältst. Und da ist jeder Teil dieser Kultur Entwicklung. Und je mehr schlechte Auswahl wir z.B. bei Mitarbeitern tätigen, desto stärker verändert der Output unsere Firmenkultur.
Das merkt man als Chef am Anfang vielleicht gar nicht so schnell. Aber wenn Du als guter, ambitionierter Mitarbeiter eine Chefin oder einen Chef vorgesetzt bekommst, die eigentlich gar nicht so gut sind, die sich aber total gut verkaufen können – was ja oft so ein Konzernprofil ist – dann verändert sich auch da die Kultur.
Nee, das ist super wichtig für uns. Das ist der zentrale Aspekt eines Unternehmens. Denn wenn wir mal ehrlich sind, Du sitzt den ganzen Tag vorm Rechner, ich sitze den ganzen vorm Rechner, alle unsere Kollegen sitzen den ganzen Tag vorm Rechner. Am Ende sind unsere Unternehmen Leute in verschiedenen Gruppen, die in mehreren Büros vorm Rechner sitzen.
Aber in einem Büro geht mehr, weil die Leute irgendwie anders miteinander umgehen, besser miteinander reden, weil es irgendwie weniger Overhead gibt. In einem anderen Büro, da passiert irgendwie nicht so viel, weil die Leute sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigen.
Und deswegen ist Kultur schon sehr, sehr wichtig. Aber sie entsteht nicht, wie viele Konzerne es planen, durch gemeinsames Klatschen, Floß bauen und Sprüche an Wände schreiben. Sie muss gelebt werden, durch Ergebnisse, durch gemeinsames Feiern und durch sehr, sehr ehrliches Feedback.
Aber eine bestehende Firmenkultur verändert sich. Vor allem wenn das Unternehmen größer wird und nicht mehr alle Mitarbeiter auf einer Fläche miteinander arbeiten. Wenn nicht mehr jeder Mitarbeiter den Namen des anderen kennt, wenn es mehr als eine Kaffeeküche gibt.
Dann gibt es vielleicht eine Office-Kultur in Hamburg, dann gibt’s eine Kultur in Berlin oder in Amsterdam. Da muss man schauen, dass man das zusammenbringt. Aber das wird, glaube ich, das neue Normal werden, weil natürlich immer mehr Mitarbeiter remote arbeiten und auch remote eingestellt werden. Man muss sich also von der Vorstellung trennen, dass eine gemeinsame Firmenkultur im Office geschaffen wird, wie es bisher der Fall war.
Schahab führt das Zitat “Wer Leistung will, muss Sinn stiften” an. Er möchte wissen, was die Mitarbeiter täglich motiviert, für Spryker zu arbeiten, und wie Alexander dabei unterstützt. Das Feedback, das Alexander von seinen Leuten zu diesem Punkt bekommt, dreht sich meistens um die Schnelligkeit und Flexibilität von Spryker, gerade im Vergleich zu großen Wettbewerbern, und den hohen Freiheitsgrad des Teams.
Natürlich würden auch die Erfolge gemeinsam gefeiert, sagt er. Er spricht auch offen über Firmenanteile und Beteiligungen für Mitarbeiter. Das Gespräch streift danach Wirecard und das Delisting von Rocket. Alexander erklärt seinen Standpunkt.
Schahab Hosseiny: Sprechen wir über Rakuten. Was ist eigentlich genau passiert? Die haben sich ja jetzt aus dem deutschen Markt zurückgezogen. Und die sind ja jetzt auch keine kleine Pommesbude, sondern einer der größten Player im Plattformgeschäft. Was glaubst Du, ist der Hintergrund?
Online-Händler Rakuten verabschiedet sich vom Markt
Ist es die japanische Mentalität, die mit dem deutschen Management nicht funktioniert hat? Oder ist es eher dieses Punktesystem, das in Deutschland nicht verstanden wurde und das versucht hatte, diesen leichten Gamification-Faktor zu berücksichtigen? Vielleicht war Rakuten nur als Durchlauferhitzer für große Preisvergleichsplattform wie idealo etc. dienlich?
Also, was glaubst Du war der Grund, warum Rakuten sich tatsächlich aus dem Markt zurückgezogen hat? Und wie beeinflusst das die anderen Marktteilnehmer? Was sind für Dich die Implikationen?
Alexander Graf: Zuallererst glaube ich, dass das kein rein deutsches Phänomen ist. Egal wo Rakuten in den letzten Jahren international zugekauft hat, im E-Commerce Bereich, im Bereich Preisvergleiche und ähnlichem, hat dieses sehr japanische E-Commerce Modell mit den Incentive Punkten und mit ein bisschen Gamification nirgendwo funktioniert. Und das gilt auch nicht nur für Rakuten, sondern eigentlich für alle Geschäftsmodelle, die versucht haben, ihre teilweise sehr, sehr lokal erfolgreichen Modelle einfach so zu übertragen.
Vielleicht können sich einige noch erinnern: Walmart hatte Mitte der 90er-Jahre versucht, den deutschen Markt zu erobern. Sie sind hemmungslos gescheitert. Die Leute haben eben niemanden am Ende der Kasse erwartet, der ihre Ware verpackt. Da gab’s ja schon fast Schlägereien. Und das ist ein kulturelles Phänomen.
Ich habe ja mit Hiroshi Mikitani gesprochen. Das war vor rund sieben Jahren auf der Messe in Bamberg, als Rakuten in Deutschland startete. Sie hatten gerade Tradoria übernommen. Ich hatte ein Interview mit ihm geführt und genau diese Punkte angesprochen.
Also was ist Rakutens USP? Warum sollte ich da kaufen? Damals war ja schon Amazon so extrem relevant. Die Antwort war: “Weil man Punkte sammeln kann”. Es gab zwar bessere Preise auf der Plattform, aber woher hätten die Kunden kommen sollen? Ich glaube, dass das einfach zehn Jahre zu spät passiert ist.
Hätte Rakuten das nicht 2013, sondern 2003 gemacht, dann hätten sie den deutschen Markt ein bisschen mit erziehen und eine Alternative zu Amazon und eBay schaffen können. So hat es ja gar keinen Effekt gehabt.
Deshalb scheidet jetzt weder ein großer Umsatzanteil aus dem Markt aus, noch ist eine zentrale Vertriebsschiene für Hunderte oder Tausende von Herstellern und Händlern weg. Es müssen auch keine anderen Marktplätze oder andere Marktplatz Ambitionen eingestellt werden.
Weder Rakuten noch Tradoria haben bei uns als Marktplatz eine wirklich große Rolle gespielt. Ich könnte jetzt die Tür öffnen und meine Frau fragen, was sie letztens bei Rakuten bestellt hat. Ihre Antwort wäre “Was ist denn Rakuten?”. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass sich viel verändern wird. Es handelt sich um Marktbereinigung im klassischen Sinn. Die hätte allerdings vielleicht schon früher erfolgen sollen.
Was man Rakuten aber entsprechend anrechnen muss: Sie ziehen sich fair aus dem Markt zurück, streichen die Grundgebühr und sagen, okay, das hat eben nicht geklappt, wir bauen jetzt irgend ein Haltemodell drüber. Das haben sie schon in Frankreich gemacht.
Im Grunde genommen hat es also keinen Effekt, weder auf Dich, noch auf mich, noch auf die meisten Zuhörer. Außer natürlich, jemand hatte sich irgendwie massiv auf das Thema Rakuten SEO spezialisiert und wusste, wie er sein Produkt ganz oben in die Product Listings bekommt. Für den ist es natürlich schade, aber der wird sicherlich einen anderen Marktplatz finden.
Schahab Hosseiny: Tatsächlich hat es wirklich einen Impact auf mich. Ich bin ja absoluter MyDealz-Fan. Du kennst den Kollegen ja auch, er war ja, glaube ich, auch schon mal bei Dir in der Kassenzone im Interview. Und da spielt Rakuten tatsächlich eine Durchaus große Rolle, weil es halt auch sehr preissensibel ist. Aber natürlich läuft mein Leben auch ohne Rakuten weiter.
Alexander Graf: Das heißt, wenn ich jetzt bei dir in der Inbox gucke, dann gibt’s da schon ein paar Bestellungen in den letzten 12 Monaten, die über Rakuten abgewickelt wurden?
Schahab Hosseiny: Tatsächlich ja, absolut, ja.
Alexander Graf: Zum Beispiel?
Schahab Hosseiny: Zum Beispiel habe ich mir eine Decke bestellt. Eine Decke von Esprit. Also keine richtige Bettdecke. Das ist so eine kleine Kuscheldecke, weil wir einen kleinen Mann bei uns im Haus haben, der ist erst anderthalb Jahre alt. Also bin ich auf die Suche nach einer kleinen Kuscheldecke gegangen.
Schahab lenkt das Thema auf Pinduoduo und den asiatischen Markt. Der Social Twist Aspekt steht im Vordergrund. Ist Social Selling auch ein Thema, das für Deutschland an Relevanz gewinnt? Alexander ist der Meinung, dass ein Grund mit für den Erfolg des Social Sellings im asiatischen Raum der frühe Vormarsch mobiler Technologien ist, die zu einem Überspringen desktop basierter Möglichkeiten geführt hat.
Er führt an, dass wir hier – mit Ausnahme der jüngeren Generationen – in der Akzeptanz und Nutzung mobiler Alternativen noch lange nicht so weit sind. Langfristig sieht er aber das gleiche Schicksal für desktop basierte Anwendungen voraus, das seinerzeit auch den stationären Handel ereilt hat.
Schahab Hosseiny: Du hast mit der Behauptung, dass der Desktop quasi das nächste stationäre Geschäft ist, eine scharfe Hypothese aufgestellt. Finde ich gut.
Wird Livestreaming zum essentiellen Marketing Bestandteil?
Okay, sprechen wir über das Thema Livestreaming. Auch so ein Thema, das in Asien vor allem jetzt während der Covid-19-Pandemie richtig schön explosionsartig groß geworden ist. Das Interessante ist ja, dass man es in Asien tatsächlich schafft, Produkte, die traditionell eigentlich nicht wirklich kompatibel sind, über Livestreaming im E-Commerce-Bereich zu vertreiben.
Über Livestreaming hier in Deutschland hatte ich letztes Mal auch mit Dr. Florian Heinemann beim OMKB Talk gesprochen. Das steckt ja bei uns wirklich noch so ein bisschen in den Kinderschuhen. Wir haben bei uns in Osnabrück, wo ich momentan auch sitze, einen Modehändler, der streamt jetzt auch ab und zu mal ins Netz. Die machen das schon ziemlich gut, aber wie erfolgreich sie sind, weiß ich natürlich nicht.
Wie stehst Du zum gesamten Thema Livestreaming im E-Commerce? Glaubst Du, dass das jetzt wirklich so ein essentieller Marketing Bestandteil wird, den man als E-Commerce-Händler perspektivisch zumindest mit auf die Agenda schreiben muss? Dass das natürlich jetzt nicht der absolute Revenue-Stream sein wird – kurzfristig betrachtet – ist klar. Obschon man, wenn man sich die Zahlen in Asien anschaut, durchaus ins ins Wanken geraten kann.
Alexander Graf: Ich glaube, wenn wir uns jetzt mit deutschen Experten unterhalten, die sich so einen Livestream angucken, dann stellen sie sofort die Parallele zum Teleshopping her. Weil beim Teleshopping ja auch ein Moderator in einem schönem Studio Perlen oder was auch immer verkauft. Das ist ja auch ein Markt, der allein in Deutschland zwei Milliarden macht. Er wächst immer so um ein, zwei Prozent.
Schahab Hosseiny: Hast Du im Live-TV-Shopping schonmal was gekauft?
Alexander Graf: Nein, aber ich muss sagen, früher als es bei DSF noch im Abendprogramm das Messerset gab, bei dem die Messer vom Brot über Dosen bis hin zu Schuhsohlen alles zerschneiden konnten, war das Teil ein unerfüllter Traum. Ich schwärme heute immer noch vom Titanium Messerset, das es in meiner Kindheit bei DSF gab.
Ich muss jetzt auch gerade an den Podcast von OMR mit Knossi denken, der ja im Grunde auch einen Livestream auf Twitch macht. Einer Plattform, die eine ganz andere Generation anspricht und die eigentlich für Spiele gemacht worden ist. Da sieht man ja, es gibt auch die jüngere Generation, die vom linearen Fernsehen weg- und in so ein interaktives Format reingeht. Deswegen glaube ich, macht es Sinn, in Kohorten zu denken.
Ich glaube, dass man die Kohorte “Ulla”, meistens Frauen 65 plus, nicht mehr in so einen synchronen Livestream kriegt. Die bleiben ihrem linearen Fernsehen treu. Dich und mich wahrscheinlich auch nicht. Aber die Generation, die nochmal zehn Jahre jünger ist, die ihr ganzes Medienverhalten anders lernen und wahrnehmen, die lassen sich schon mitnehmen.
Deswegen müssten Plattformen wie Zalando konsequent verschiedene Shopping Formate ausprobieren, z. B. auf Twitch, auch wenn Du oder ich noch gar nicht wissen, wie die aussehen müssten, weil wir weder zur Zielgruppe gehören, noch geeignete Moderatoren sind. Wobei, das nehme ich zurück. Ich biete mich hiermit als Moderator an! Ich glaube, ich kann insbesondere Messersets extrem gut vorstellen.
Aber wie auch in allen anderen Medien macht sich dieses Phänomen bemerkbar, dass es nicht mehr diesen einen großen Kanal, dieses eine Ding gibt, das für alle funktioniert. Die Trends werden kürzer und zyklischer und die Kohorten werden kleiner. Auf der anderen Seite besteht dadurch auch die Möglichkeit, für diese eine Kohorte, für diesen einen Trend der dominierende Anbieter zu werden und sich dadurch in die nächste Kohorte vorzurobben.
Ein weiterer cooler Effekt ist, dass die großen Anbieter auf dem Markt wie Amazon oder Zalando diese Kanäle nicht automatisch für sich ownen und entdecken können. Genauso wenig wie die Fernsehsender Netflix oder Twitch mit ihren Formaten fluten können. Und das ist eine coole Botschaft für Gründer.
Trendscouting und New Business Delevopment bei Spryker
Schahab Hosseiny: Absolut. Du hast gerade über Kohorten gesprochen. Kohorten und Analysen. Jetzt nochmal auf Eure Organisation, Spryker, blickend: Wie orchestriert Ihr in Eurer Organisation das gesamte Thema Trendscouting bzw. New Business Development? Wie geht ihr damit um?
Du hattest ja gerade gesagt, Ihr steht permanent unter dem Druck, Euch neu erfinden zu müssen. Rein aus Interesse, gibt’s da auch eine Unit oder ist das so fest bei Euch in der DNA verankert, dass ihr Euch permanent auf die Suche macht nach dem nächsten, neuen großen Ding für euer Segment?
Alexander Graf: Super Frage. Von den einzelnen Abteilungen wird immer wieder gefordert, dass wir z. B. einen Business Developer Product brauchen. Oder einen Spezialisten für Gross-Marketing. Wir brauchen hier jemanden, der sich mal so ganz innovatives Zeugs überlegt für die Kunden, höre ich. Ich halte das aber für falsch. Ich glaube, das ist Führungsaufgabe. Genauso wie die Mitarbeiter zu challengen und jeden Tag den Status Quo zu hinterfragen.
Warum hat das jetzt so lange gedauert? Warum sind wir nicht auf die Idee gekommen, auf die vielleicht ein Wettbewerber gekommen ist? Warum probieren wir nicht mal das und das? Ich war ja selber Trendscout bei Otto, also cool für mich. Ich hatte quasi keinen operativen Auftrag und konnte halt forschen, konnte lernen. Aber eigentlich hätte das, was ich gemacht habe, ein Abteilungsleiter machen müssen. Jemand in einer operativen Funktion, der sagt “Komm, zwanzig Prozent meiner Zeit mit dem Team muss ich damit verbringen, neue Dinge zu erproben, mich neu zu erfinden, mich immer wieder zu hinterfragen!”.
Denn wenn ich das selbst nicht tue, werde ich aus dem Markt gefegt und deswegen versuche ich – das ist meine Meinung als Gründer und CEO – solange es geht diese dedizierten Funktionen abzuwehren. Natürlich passiert das aber früher oder später.
Irgendwann wird aus rechtlichen Gründen jemand eingestellt werden müssen, der dann nebenbei irgendwie so eine Art innovatives Projektmanagement macht, so ein Corporate Development Officer. Aber solange ich da mitreden kann, versuche ich das zu vermeiden und erwarte von den Führungskräften, dass sie das selber hinbekommen. Dass sie sich selber challengen.
Und sie werden natürlich auch von uns massiv gechallenged, permanent. Auch wir werden gechallenged. Boris challenged mich die ganze Zeit. Ich piesacke Boris. Es ist zwar mega anstrengend, aber das ist die einzige Möglichkeit an der Spitze zu bleiben.
Thema Rating: Spryker hat es innerhalb kürzester Zeit in den magischen Quadranten bei Gartner geschafft. Auch andere Agenturen wie Forrester berichten überwiegend positiv über Alexander und sein Unternehmen. Schahab erwähnt aber auch die von den Agenturen festgestellten Kritikpunkte. Alexander reagiert darauf und erklärt, welche Punkte berechtigt sind und wie an ihnen gearbeitet wird, und welcher Punkt auf einer Fehlinterpretation, die schon geklärt wurde, beruht.
Alles in allem findet Alexander den Zeitpunkt noch zu früh, um sicher sagen zu können, wie sich das Rating auf den Geschäftserfolg von Spryker auswirken wird. Er blickt auf jeden Fall optimistisch in die Zukunft, gerade auch was die außerdeutschen Märkte betrifft. Denn die Ergebnisse dieser Ratings sind nicht käuflich und somit ist die Platzierung bei Gartner auch so etwas wie ein Ritterschlag für Spryker.
Schahab Hosseiny: Okay, gut zu wissen, dass man sich da nicht einkaufen kann.
Cybersecurity im E-Commerce
Alright, sprechen wir ein bisschen über Cybersecurity im E-Commerce. Ihr sucht ja aktuell einen Head of Security, oder? Ist das richtig? Du wirkst so nachdenklich?
Alexander Graf: Es gibt mehrere Security Rollen. Also die gibt es ja für IT, es gibt sie für Compliance, aber grundsätzlich suchen wir Menschen, die sich mit Daten und Servern auskennen. Das ist schon hilfreich.
Schahab Hosseiny: Okay. Da referenziert Ihr ja auf die ISO 27000-Normen, etc. Jetzt mal ungeachtet dessen, dass ich darüber schon beim letzten Talk mit Florian Heinemann gesprochen hatte, der dann auch die Hypothese in den Raum geworfen hat, dass sich viel zu wenige Unternehmen mit diesem essentiellen Thema beschäftigen.
Wie steht Ihr denn dazu? Klar, das ist mit Sicherheit auch für Euch ein sehr wichtiges Thema. Aber wie stehst Du denn persönlich zu Cybersecurity und hast Du da auch mit Blick nach vorne, was die Anzahl an Cyberangriffen angeht, weiterhin ein entspanntes Gefühl in Deutschland?
Alexander Graf: Also, das Thema bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Würde man unter Verfolgungswahn leiden, könnte man, glaube ich, jeden Tag ungefähr hundert Angriffe konstruieren. Das ist nun mal – in Anführungsstrichen – der Krieg unserer Zeit, der von überall geschlagen wird.
Man muss sich damit auskennen. Das ist Teil unseres Auftrags, auch als Software-Unternehmen, sowohl intern, also um die Systeme zu schützen, mit denen wir arbeiten, als auch extern. Unsere Server liegen bei AWS oder in der Google Cloud oder wo auch immer. Aber auch da muss ich mich immer drum kümmern.
Wie ist das konfiguriert? Wie wird der Datenaustausch mit den Unternehmen funktionieren? Wir haben das Glück, dass unsere Systeme sehr modular gestaltet sind. Das heißt, Du kannst jetzt nicht übers Frontend direkt irgendwie auf die Datenbank zurückgreifen.
Da haben es die älteren Anbieter tatsächlich deutlich schwerer, allein schon von der technischen Seite. Ich glaube, der Aufwand und auch die Ressourcen, die Du reinstecken musst, um ein Produkt zu schützen, werden immer größer. Das wird sich auch auf die Lizenzpreise niederschlagen, kann ich mir gut vorstellen.
Das Monitoring-System muss aufgebaut werden, der Schutz verbessert und Personal eingestellt werden, die Leute müssen deshalb permanent Revenue generieren.
Das geht aber als Enterprise-Anbieter nicht anders. Und das ja auch fairerweise der Grund, warum ich jetzt nicht selber einen privaten E-Mail Server betreibe, sondern klar bei Gmail bin. Ich weiß, okay, ich gebe natürlich ein Stückchen meiner Daten preis, klar. Aber es ist extrem unwahrscheinlich, dass mir jemand über Spoofing meine Mail klaut.
Unsere Kunden erwarten auch von uns mehr Security. Das wird Teil des Product-Offerings, denn aus meiner Sicht ist das der zentrale Angriffspunkt für viele Kriminelle. Und folgt man der These, dass die Wertschöpfung über das digitale Interface erfolgt, also WIE ich verkaufe, nicht WAS ich verkaufe, werden diese Angriffsziele auch immer attraktiver werden.
Spryker ist im B2B-Bereich sehr aktiv, deshalb ist auch Preisflexibilität ein Thema. Schahab möchte wissen, ob und welche Features, wie z. B. künstliche Intelligenz, im B2B-Bereich den kompletten Verkaufsprozess supporten werden. Alexander Graf nennt Beispiele und benennt auch Probleme, wie z. B. den Unwillen der Unternehmen, die eigene Preisgestaltung offenzulegen.
Er fordert, dass die Firmen den Einsatz von Anforderungsmanagern in Betracht ziehen. Er versteht auch jeden B2B-Konzern, der sagt “Herr Graf, unser Geschäftsmodell ist das Komplexeste, was Sie sich je vorgestellt haben. Jeder Kunde, jedes Produkt hat den anderen Preis. Wir können das nicht offenlegen”.
Auf der anderen Seite ist seiner Meinung nach ein Teil des Tricks, um im E-Commerce erfolgreich zu werden, Verfügbarkeiten zu zeigen und zu kalkulieren. Wer das nicht macht, würde wahrscheinlich deutlich schlechtere Conversions sehen, was immer das Interface ist.
Schahab Hosseiny: Okay, Alex. Mit Blick auf die Zeit sind wir jetzt fast am Ende. Ihr habt jetzt demnächst euer eigenes Spryker-Event, oder?
Alexander Graf: Ja, die Spryker Excite.
Schahab Hosseiny: Bist Du soweit happy mit der Anzahl an Teilnehmern, die sich registriert haben? Oder geht da noch mehr?
Alexander Graf: Es geht immer mehr. Wir geben Freitickets raus, hier im Stream. Nein, jeder kann sich kostenlos anmelden. Wir haben auch ziemlich coole Sprecher dort. Marco Börries, da freue ich mich am meisten, weil der so selten spricht. Das ist ja einer der berühmtesten europäischen Gründer.
Was die Anmeldezahlen betrifft, da haben wir die Tausend locker geknackt. Das ist für einen Vendor Summit schon ganz cool. Wie viel sich davon live einloggen und man aktivieren kann, werden wir sehen. Aber wir haben uns paar Sachen ausgedacht. Wir sind ja im Jahr der Neuerfindung der Events und lernen, glaube ich, auch noch dazu.
Schahab Hosseiny: Alex, es war mir ein Vergnügen. Und es war eine Ehre, heute mit Dir die Stunde verbringen zu dürfen. Ich sage Herzlichen Dank für Deine Zeit und ja, dann, bis hoffentlich ganz bald.
Alexander Graf: Vielen Dank für die Einladung.
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